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Aus der Geschichte lernen: Die evangelischen Kindergärten im Nationalsozialismus

Wo standen die Evangelischen Kindergärten in der NS-Zeit von 1933 bis 1945? Wie verhielten sie sich gegenüber dem Bestreben des nationalsozialistischen Staates, das gesamte Wohlfahrtssystem zu kontrollieren?

Auskunft gibt eine Studie, die der VEK 2009 zu seinem 60-jährigen Bestehen veröffentlichte. Verfasserin war die vormalige VEK-Geschäftsführerin Dorothea Bellingkrodt – nach der Vorarbeit vieler Beteiligter, die etwa in schleswig-holsteinischen Archiven geforscht hatten. Die Studie richtet den Blick auf die gesamte Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung im Norden, beginnend mit der Gründung der ersten sogenannten „Warteschule“ 1810. Der NS-Zeit von 1933 bis 1945 ist ein eigenes Kapitel gewidmet.

Die ehemalige VEK-Geschäftsführerin Dorothea Bellingkrodt (hier 2009) untersuchte in einer Studie die Geschichte der evangelischen Kita-Arbeit in Schleswig-Holstein.

Für den Zugriff auf den sozialen Bereich war damals die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) zuständig. Sie baute eigene Kindergärten auf und drängte freie Träger zurück. Dazu heißt es in der Studie:

Die nationalsozialistische Regierung beanspruchte die Führung der Menschen von Kindheit an. Ziel war die Gleichschaltung aller Einrichtungen. Die Kindertageseinrichtungen der Arbeiterwohlfahrt, die Montessori- und Waldorfkindergärten wurden von der NSV übernommen oder geschlossen. Die dänischen Kindergärten in Schleswig-Holstein durften bestehen bleiben.

Der Aufbau eigener Kindergärten gehörte zum Grundprinzip der NSV, der im NS-Staat die gesamte Wohlfahrtspflege zugeordnet war. Bis 1939 errichtete sie im Reich die beachtliche Anzahl von 13.400 Kinderpflegeeinrichtungen mit rund 700.000 Plätzen. Viele davon waren Dorfkindergärten oder sogenannte Erntekindergärten, die nur während der Sommermonate zur Entlastung der Landfrauen geöffnet hatten. Sie waren z. T. in Scheunen, Gasthäusern, Schulen oder leer stehenden Bauernhäusern untergebracht.

Fachkräfte gab es kaum für dieses Angebot. Neben Volksschullehrerinnen und Kinderkrankenschwestern betreuten dort Mädchen aus dem ‚Reichsarbeitsdienst‘ (RAD) und dem ‚Bund deutscher Mädel‘ (BDM) die Kinder. Allein in Schleswig-Holstein richtete das Amt für Volkswohlfahrt über 600 Erntekindergärten ein.

Auch die evangelischen Kindergärten waren im Visier der Nazis:

„Schon 1933 startete die NSV den Versuch, die evangelische Kinderpflege als bedeutenden Arbeitszweig der Inneren Mission zu übernehmen. Unter der Parole ‚Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens‘ gab es viele Ein- und Übergriffe auf regionaler und lokaler Ebene, um die Einrichtungen in die NSV zu überführen.

Durch schärfere Kontrollen, besonders korrekte Auslegung der Bauvorschriften und Ausnutzung der finanziellen Abhängigkeiten mussten einzelne Kindergärten schließen. Die Rechtsträger der evangelischen Einrichtungen, zumeist kirchliche Frauenvereine, und auch die Eltern der Kinder leisteten hier z. T. starken Widerstand. Sie erreichten manchmal den Erhalt der Kindergärten. Entscheidend für den Bestand der Einrichtungen war immer die Verhandlung vor Ort.“

Gestützt wurde das Vorgehen örtlicher NS-Funktionäre durch reichsweite Vorschriften. 1937 ordnete das zuständige Reichsministerium an, dass als Träger neu einzurichtender Kindergärten in erster Linie die NSV infrage komme. Und 1938 gab ein Ministerialerlass der NSV die Möglichkeit, gegen Kindergärten einzuschreiten, wenn eine Leitung „im Geiste der nationalsozialistischen Weltanschauung“ nicht gewährleistet sei. Das ließ sich beliebig nutzen, um (auch) gegen evangelische Träger vorzugehen.

So wurde der Plöner Kindergarten – wie sieben weitere evangelische Einrichtungen von 1933 bis 1941 – von der NSV übernommen. Der Kindergarten in Ratzeburg wurde auf Veranlassung der NSV geschlossen.

Evangelische Träger taten sich deshalb zusammen. Der neu gegründete Landesverband war ein Vorläufer des heutigen VEK, durfte im NS-Staat aber nicht lange tätig sein, wie die Studie schildert:

„Um dem politischen und weltanschaulichen Druck gemeinsam besser entgegnen zu können, gründeten Kirchengemeinden als Rechtsträger evangelischer Kindergärten im Jahr 1934 den schleswig-holsteinischen Landesverband für evangelische Kinderpflege unter Leitung von Bischof i. R. Mordhorst. Der Verband schloss sich – ebenso wie der Verband der Kinderhorte in Lübeck – der Vereinigung Evangelischer Kinderpflegeverbände Deutschland e.V. an. Beide schleswig-holsteinischen Verbände wurden 1941 bzw. 1942 aufgelöst.“

Mitmachen, taktieren, widerstehen – in der evangelischen Kirche gab es alle Reaktionen auf die Vereinnahmung durch den NS-Staat. Unter Christinnen und Christen waren freudige Unterstützer der Nazis ebenso wie entschiedene Gegner. Und viele versuchten einfach, sich zu arrangieren.

Die Diakonie Deutschland (früher war der Begriff „Innere Mission“ gebräuchlich) schreibt dazu auf ihrer Website:

„Die Überzahl in der Inneren Mission als auch im deutschen Protestantismus nahm ein ambivalentes Verhältnis zum Nationalsozialismus ein: Einerseits wurden der nationalsozialistische ‚Dienst am Volk‘, sein Wille zur sozialen Neugestaltung und zu einem nationalsozialistischen Christentum begrüßt, andererseits stand man der Rassenideologie, der nationalsozialistischen Kulturpolitik und der politischen Praxis der NSDAP kritisch gegenüber.“

Zwei Beispiele aus Schleswig-Holstein zeigen, wie unterschiedlich sich evangelische Träger verhielten. Beide Fälle sind in der Studie geschildert.

Beispiel Lübeck

Ein Versammlungs-Protokoll aus Lübeck veranschaulicht, wie sich der dortige Verband der (evangelischen) Kinderhorte in die Hand der NS-Volkswohlfahrt begab. Die Versammlung fand am 4. August 1939 statt, wenige Wochen vor Beginn des Zweiten Weltkriegs:

„Kreisamtsleiter Kersten tritt als Kommissar der NSV in den Vorstand ein. Die NSV nimmt Einfluß auf Einsatz und Ausrichtung der in den Horten tätigen erzieherischen Kräfte und wird sich besonders deren Schulung angelegen sein lassen. Die christliche religiöse Erziehung in den Horten, wie sie ihren Ausdruck namentlich in der Gestaltung der Feste findet, bleibt unberührt. Pastor Jensen (Vorsitzender) betont, daß diese Verbindung mit der NSV das uns schon immer wichtige Anliegen unserer Arbeit unterstreicht und stärkt, die Jugend zu bewußten und tüchtigen Gliedern unseres nationalsozialistischen Staates zu erziehen. Er heißt Kreisamtsleiter Kersten als Mitarbeiter im Vorstand willkommen und hofft auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit.“

 Noch in dieser Zusammenkunft bietet NSV-Funktionär Kersten an, finanzielle Mittel für die evangelischen Horte beim NS-Winterhilfswerk zu beschaffen. Für die künftige Personalpolitik beschließt der Verband:

„Es wird vereinbart, daß sich die neu geschaffene Verbindung mit der NSV bei der Anstellung [einer] neuen Kraft in der Weise auswirken soll, daß Kreisamtsleiter Kersten die Vorschläge

vom Vorstand zur Begutachtung und Zustimmung übermittelt werden. Können entsprechende Vorschläge nicht gemacht werden, soll die Gaustelle der NSV zu Rate gezogen werden.“

Beispiel Friedrichsberg

Anders lief es im Evangelischen Kindergarten Schleswig-Friedrichberg. Die Kirchengemeinde und eine standfeste Leiterin wehrten eine nationalsozialistische „Gleichschaltung“ ab. In der Studie heißt es dazu:

„Die Kirchengemeinde stand voll zu ihrem Kindergarten, der ab 1939 von der Kindergärtnerin Hermine Bünsen geleitet wurde. Nach ihrem Bericht kam lediglich einmal ein Funktionär der NSV zur Besichtigung in den Kindergarten. Dabei nahm er ein Bild von Fritz von Uhde mit dem Spruch ‚Lasset die Kindlein zu mir kommen‘ ab und sagte: ‚Das kommt weg‘. Darauf antwortete Frau Bünsen: ‚Das bleibt dran‘ und hängte das Bild wieder auf. Konsequenzen aus diesem Verhalten habe sie nicht gespürt.

An der kirchlichen Ausrichtung ihrer Arbeit sei sie nicht gehindert worden. So habe sie täglich mit den Kindern ein Morgengebet gesprochen, regelmäßig biblische Geschichten erzählt und zum sonntäglichen Kindergottesdienst eingeladen, bei dem sie aktiv mitwirkte.

Allerdings habe es gegenüber der politischen Situation auch Zugeständnisse gegeben. So hingen im Kindergarten zwei Hitlerbilder, auf dem einen war er umgeben von kleinen Jungen, auf dem anderen von kleinen Mädchen. Der Geburtstag des Führers wurde nicht besonders gefeiert, nur ein Geburtstagslied gesungen. Eine große Fahne für politisch angeordnete Beflaggung besaß die Einrichtung nicht, wohl einige kleine Hakenkreuzwimpel für die Fensterbänke. Weil diese Fähnchen von der Straße aus nicht immer zu sehen waren, wurde Frau Bünsen mehrfach zur Korrektur ermahnt.“

1939 besuchten 30 Kinder die Einrichtung in Friedrichsberg, Betreuungszeit von 7 bis 17 Uhr. Während der Kriegszeit waren es bis zu 40 Kinder, „deren Mütter zuletzt fast alle in der Munitionsfabrik Kropp arbeiten mussten“, so die Studie.

Bis 1942 erhielt der kirchliche Kindergarten staatliche Zuschüsse. Doch 1943 lehnte der Regierungspräsident von Schleswig eine Zuwendung ab: Im Land Preußen dürften nur noch Kindergärten bezuschusst werden, die der NSV angeschlossen seien. Das Kirchenamt in Kiel sprang ein und glich einen Teil des Fehlbetrags aus. Außerdem bewilligte der Bürgermeister von Schleswig weiterhin – bis einschließlich 1944 – die Anträge des Kirchenvorstandes auf einen Zuschuss.

„Am Ende der Nazi-Zeit war der Friedrichsberger Kindergarten einer von fünf evangelischen Kindergärten in Schleswig-Holstein, die das Dritte Reich überstanden hatten“, so Dorothea Bellingkrodt in ihrer Studie.

In den letzten Kriegsjahren, so die Autorin, habe der Druck auf die freien Kindergärten bereits nachgelassen. Die Übernahme durch die NSV ging zurück. Der einfache Grund: die Kriegswirtschaft. Viele Mütter mussten arbeiten, etwa in der Rüstungsproduktion, wie im Beispiel aus Friedrichsberg. Entsprechend wichtig war für das NS-Regime, dass es überhaupt Kindergartenplätze gab – die ideologische Vereinnahmung freier Träger trat dahinter wohl zurück.

Nach Kriegsende arbeiteten nur noch wenige Kindergärten: „Viele Einrichtungen privater oder kirchlicher Träger existierten nicht mehr; die NSV-Einrichtungen waren aufgelöst. Im Landesteil Schleswig gab es noch die sechs Kindergärten der dänischen Minderheit. Von den evangelischen Einrichtungen konnten offenbar nur jene die NS-Zeit überstehen, die eine Kontinuität in der Leitung hatten und deren Leitungskräfte unbeirrt ihren Weg gingen und dabei Rückhalt in der Trägerschaft und der Bevölkerung fanden.“ Neben Hermine Bünsen in Schleswig-Friedrichsberg waren das zum Beispiel die Diakonisse Engel Drews in Nortorf (Leitung 1912-1950) oder Helene Horstmann in Schleswig am Lollfuß (Leitung 1931-1968).

So zeigt auch dieser Blick in die Geschichte, wie wichtig die Vermittlung demokratischer Werte ist. Und die muss bei den Jüngsten beginnen.


Zusammengestellt von Detlev Brockes

Quelle: Dorothea Bellingkrodt: Von den Kleinkinder- und Warteschulen zum evangelischen Kindergarten in Schleswig-Holstein. Ein Beitrag zur Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung. Erschienen in der Broschüre „Mit Gott groß werden“ zum 60-jährigen Bestehen des VEK, Rendsburg 2009, S. 32-89.

Einzelne Exemplare der kostenlosen Broschüre können Sie hier bestellen.

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